Ein Gastkommentar von Frank Lehmpuhl
„Gibt es noch Fragen?“ – Wenn am Ende eines Vortrags hier keine Hand hochgeht, kann der Redner sicher sein, dass man ihm entweder nicht zugehört oder nichts verstanden hat. Keine Fragen bedeuten nicht absolute Klarheit, sondern oft das Gegenteil.
Die meisten von uns werden es aus eigener Erfahrung bestätigen können: Kinder, die besonders viel fragen, sind in der Regel auch sehr klug. „Wer nicht fragt bleibt dumm…“, lehrt uns seit Jahrzehnten die Sesamstraße. Und kluge Erwachsene machen den Kindern mit „Es gibt keine dummen Fragen“ Mut.
Man kann sich das Wissen eines Menschen wie eine Kugel vorstellen. Ihre Oberfläche bildet die Grenze zum Unbekannten. Genau hier entstehen die Fragen. Jede beantwortete Frage vergrößert die Kugel. Doch je größer sie wird, desto mehr wächst auch die Oberfläche und mit ihr die Zahl der Fragen. Wer also sehr viel weiß, hat auch besonders viele Fragen. Darum sagte Sokrates, einer der klügsten Menschen seiner Zeit: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ (Ein Satz, der Leuten mit einer sehr kleinen Kugel nie über die Lippen kommen würde.)
Der Zweifel ist die Grundlage jeder Wissenschaft. Alle großen Persönlichkeiten, denen die Menschheit viel zu verdanken hat, waren Zweifler. Sie haben Fragen gestellt – Dinge in Frage gestellt. Sie alle waren „umstritten“, so wie die heutigen Abweichler auch. Es war im Verlauf der Geschichte nie gut, wenn es nur eine Wahrheit, einen Weg gab. „Alternativlosigkeit“ gibt es nicht. Das ist nur eine Ausrede für die Verweigerung eines Diskurses. Wenn der Chef des RKI verlangt, dass die Maßnahmen „niemals hinterfragt werden dürfen“, widerspricht das den Fundamenten der Wissenschaft und unserer pluralistischen Gesellschaft.
Die allermeisten Menschen, die im Laufe des letzten Jahres Zweifel an den sogenannten Corona-Maßnahmen bekamen, haben Fragen. Viele Fragen und es kommen ständig neue hinzu. Die wenigsten berufen sich auf eine (Verschwörungs-)Theorie, also auf eine verbindliche Antwort, eine Erklärung für all das, was zurzeit unser Leben auf den Kopf stellt. Sie sehen einfach Dinge, die nicht zusammen zu passen scheinen (z.B. Kurzarbeit in Kliniken während der 1. Welle, Abbau von Intensivbetten und sogar die Schließung von Krankenhäusern inmitten der 2. Welle, keine erhöhte Gesamtzahl der Intensivpatienten, obwohl der Anteil an Covid-Kranken steigt).
Es tut unserem Zusammenleben nicht gut, wenn wir diese Menschen beschimpfen („Covidioten“) und ausgrenzen, wie es leider immer öfter geschieht. Dadurch werden die Fragen nicht verschwinden. Was wir jetzt dringend brauchen, ist die Rückkehr zum Dialog. Die Gräben, die sich durch Freundschaften und sogar Familien ziehen, dürfen nicht noch tiefer werden. Wenn wir jetzt nicht anfangen, wieder aufeinander zuzugehen, ins Gespräch zu kommen und Antworten auf die vielen offenen Fragen zu finden, wird es immer schwerer und vielleicht am Ende unmöglich, wieder in unser gewohntes Leben zurückzufinden.
Wir leben in einer freien Gesellschaft und sind es gewöhnt, unsere Gedanken – auch Zweifel – ohne Angst vor Repressalien äußern zu dürfen. Das sollte auch so bleiben, wenn wir unseren Kindern das freie, selbstbestimmte Leben ermöglichen möchten, das uns selbst vergönnt war. In unser aller Interesse sollte dies – bei aller Bedenken wegen gesundheitlicher Risiken – nicht unter die Räder kommen. Das wünsche ich mir und uns allen für 2021.