Ein Gastbeitrag von Dr. Hans-Georg Maaßen
Während des Kalten Krieges galt die Sowjetunion als unser Feind, nach der Wiedervereinigung waren Sowjetunion und dann Russland plötzlich Partner und Freund. Als ich Anfang der 2000er Jahre in Russland ein Abkommen über Visumerleichterungen für Schüler, Studenten und Städtepartnerschaften aushandelte, wollten sich Politik und Medien nicht vorstellen, dass es auch einmal anders sein könnte. Bundeswehr, Spionageabwehr und Zivilschutz wurden heruntergefahren. Wofür noch Luftschutzbunker oder Sirenen? Oder die Wehrpflicht, die unter Merkel abgeschafft wurde? Wofür ein Regierungsbunker für den Krisenfall, den es noch zu Zeiten des Kalten Krieges in Marienthal gab. Beamte, die meinten, es könne auch wieder anders sein, wurden als Kalte Krieger diffamiert. Politik und Medien vertraten kraftvoll die Überzeugung, wir seien endlich im Zeitalter des ewigen Friedens angekommen: nie wieder Krieg. Und wir müssten statt Soldaten Entwicklungshelfer in alle Welt aussenden, die die Frohe Botschaft von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verkünden.
Jetzt sieht die Welt anders aus. Aus Freunden wurden Gegner. Dass das so kommen könnte, hätte eigentlich jeder sehen können, der einigermaßen bei Verstand ist und die russische Politik der letzten Jahre verfolgte. Mahner gab es genug. Deutschland hätte sich auf ein solches mögliches Szenario einstellen müssen. Dass dies in Deutschland unter den Regierungen Schröder und Merkel nicht gemacht wurde, ist schlimmer als Versagen, es war Vorsatz. Schröder und Merkel standen in einer bemerkenswert intransparenten persönlichen Beziehung zu russischen Regierungsstellen und hatten Deutschland faktisch demilitarisiert und in eine ökonomische Abhängigkeit von Russland und China geführt. Energiepolitisch abhängig von Russland, was durch den Atomausstieg und die ideologische „Energiewende“ noch vergrößert wurde. Wir hatten uns nie um Lebensmittel kümmern müssen; sie waren einfach da. Das wird sich vermutlich ändern, weil wir inzwischen abhängig sind von Russland, Weißrussland und der Ukraine. Jede Sanktion gegen Russland mag Russland treffen, aber auch und vor allem Deutschland. Und das ist nicht alles: durch Merkel sind wir in eine wirtschaftliche und technologische Abhängigkeit von China gebracht worden, das am 4. Februar, wenige Wochen vor dem Ukrainekrieg, mit Russland eine „unbegrenzte“ Partnerschaftsvereinbarung einging. Wenn es einen Konflikt zwischen dem Westen und China gibt, hat dies schwerwiegende Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft.
Kurzum, Deutschlands Lage im Bereich der Verteidigung und des Zivilschutzes ist schlecht, hinsichtlich der Versorgung und Wirtschaft sind wir nicht unabhängig. Wir sind unter Merkel langsam in die Abhängigkeits- und Pazifismusfalle geraten. Deshalb sollte man sich ohne Bündnisverpflichtung in keinen Konflikt hineinbegeben, denn mit Lichterketten kann man keinen Krieg führen und schon gar nicht gewinnen.
Gleichwohl gibt es in deutschen Medien ein anschwellendes Kriegsgeheul, dem sich auch einzelne Politiker nicht verschließen. Mathias Döpfner, Chef des Springer Verlages und einer der mächtigsten Medienleute Europas, schrieb in einem Kommentar seiner Bild-Zeitung, die NATO müsse sofort militärisch auf Seiten der Ukraine eingreifen, um die freie Welt zu retten. Das bedeutet nicht weniger als eine militärische Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland. Was das bedeutet, sollte jedem klar sein: ein nicht mehr regional begrenzter Krieg, der mit einiger Wahrscheinlichkeit in einen Weltkrieg münden könnte. Döpfner steht mit seiner Position in Deutschland nicht allein. In Medien wird mit emotionalisierenden Bildern und Berichten über die Opfer des Ukrainekriegs Stimmung für eine militärische Unterstützung der Ukraine gemacht. Es ist ein mediales Trommelfeuer gegen die Vernunft mit dem Tenor, wir dürften nicht tatenlos zusehen, wie Russland die Ukraine erobert und von Menschen leiden. Man könnte dieses mediale Trommelfeuer auch Kriegshetze nennen.
Kriegshetze und -propaganda gibt’s nicht nur auf russischer Seite. Westliche Medien können das auch. Ich bin misstrauisch, wenn mir Nachrichten und Kommentare vermitteln wollen, dass es in einem Konflikt nur Schurken und Lichtgestalten gibt. Das haben wir immer wieder erleben müssen, als uns unsere Medien auf Kriege gegen das „Böse“ eingestimmt hatten. Einmal war es Milošević, dann Gaddafi, dann Saddam Hussein oder Assad, um einige Beispiele zu nennen. Wir wissen auch, dass unsere Politiker und Medien auch nicht davor zurückschrecken, uns ihre Kriege durch Lügen schmackhaft zu machen. Der Irakkrieg wurde mit der dreisten Behauptung gerechtfertigt, dass Saddam Hussein Chemiewaffenlabore unterhalte. Der Angriffskrieg der USA und ihrer Verbündeten verstieß gegen das Völkerrecht, hatte aber für die Betroffenen keine Konsequenzen. Für den Irak erhebliche: bis zu 650.000 Todesopfer. Die genaue Zahl ist bis heute nicht bekannt.
Daran muss ich denken, wenn im Falle des Ukrainekriegs Russland wieder als das Reich des Bösen dargestellt wird, das von dem „Oberschurken“ Putin regiert wird, während die Ukraine die freiheitliche Demokratie ist, die heldenhaft von Selinskij verteidigt wird. Jeder der sich nur oberflächlich mit der Ukraine beschäftigt hatte, sollte wissen, dass dieser oligarchisch regierte Staat weit davon entfernt ist, die Standards einer freiheitlichen Demokratie zu gewährleisten und dass Selinskij, wie wir aus den Pandora-Papers wissen, zu den für ukrainische Verhältnissen üblichen dubiosen Figuren aus dem Umfeld von Oligarchen zählt, die uns im Westen immer als lupenreine Vertreter westlicher Werte verkauft werden.
Ich halte Putin weder für verrückt noch für irrational, wie er in manchen westlichen Medien etikettiert wird. Er ist durch den KGB geprägt und weiß, sich klare Ziele zu setzen, seine Gegner und Feinde zu analysieren, Risiken abzuwägen und die Ziele alsdann effizient durchzusetzen. In diesem Sinne handelt er rational, und als ehemaliger KGB-Offizier skrupellos. Anders als westliche Politiker lässt er sich nicht von Medien und Stimmungen des Wahlvolks beeinflussen, deshalb ist er berechenbarer als manch westlichen Politiker. Sein Kriegsziel im Ukrainekrieg ist bekannt. Er will unter keinen Umständen, dass die Ukraine Teil des „Westens“ wird. Er möchte eine Art zweites Weißrussland als befreundeten Pufferstaat zwischen der NATO und Russland. Dafür führt er Krieg. Dagegen halte ich einen Angriffskrieg gegen NATO-Staaten derzeit für wenig wahrscheinlich. Sicherlich träumt er auch den zaristischen Traum, dass Europa zum russischen Hegemonialbereich gehört, aber er wäre sicher nicht so töricht, die NATO durch einen Angriff auf die Ukraine aus dem Friedensschlaf zu wecken, um sie dann zu überfallen. Putins Interesse ist deshalb klar.
Das Interesse von Selinskij ist ebenfalls klar, der nach Möglichkeit die NATO in den Krieg hineinziehen möchte, um sich und der Ukraine eine Kapitulation zu ersparen. Auch die USA haben sicherlich ein Interesse daran, die Ukraine in diesem Konflikt nicht an Russland zu verlieren, und die Falken in Washington träumen schon von einem Regimewechsel in Moskau, um nachher Russland im amerikanischen Sinne zu filetieren. Erfahrungsgemäß sind die US-Amerikaner und ihre britischen Freunde bei der Risiko- und Folgenabschätzung ihres Handels ziemlich schwach und überlassen das Wegräumen der Folgen ihrer militärischen Abenteuer lieber anderen.
Aber was sind unsere nationalen Interessen? So sehr uns die Opfer des Krieges leid tun, so sind unsere Interessen nicht deckungsgleich mit denen der Ukraine. Unser Interesse ist, dass wir auf Grund unserer selbst verschuldeten militärischen Unfähigkeit und ökonomischen Abhängigkeiten nicht in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen für uns hineingezogen werden. Das bedeutet auch, schreckliche Kriegsbilder auszuhalten und sich nicht schon wieder durch erfundene Provokationen und angebliche Chemiewaffenfunde täuschen zu lassen.
Unser Gastautor Dr. Hans-Georg Maaßen war bis 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Er gilt als exzellenter Verfassungsjurist und ist Mitglied der CDU. Sein Motto: „Wer die Moral über das Recht stellt, verliert beides.“
Im November 2020 führte Michael Hauke mit Hans-Georg Maaßen ein vielbeachtetes Interview zum Infektionsschutzgesetz und den Corona-Maßnahmen. Es ist nachzulesen in Michael Haukes aktuellem Buch „Wie schnell wir unsere Freiheit verloren“.