Der SPD-Bundestagsabgeordnete Marcus Held plädiert in einem Interview für die Zeitungen des Hauke-Verlages bei dem Umgang mit Corona für mehr Eigenverantwortung. Als Beispiel nennt er die AIDS-Kampagne aus den 90er Jahren. „Dort stand umfassende Aufklärung mit dem Ziel der Eigenverantwortung der Menschen im Mittelpunkt, und das hat zu hervorragenden Ergebnissen bei der Bekämpfung der Krankheit geführt. “Der Sozialdemokrat befürchtet in dem Gespräch, das Michael Hauke mit ihm führte, schwerste Auswirkungen auf die Wirtschaft: „Viele Unternehmen haben überhaupt keine Chance mehr!“
Marcus Held sitzt seit 2013 für die SPD im Deutschen Bundestag. Er stammt aus Rheinland-Pfalz, wo er auch seinen Wahlkreis hat. Er war 14 Jahre ehrenamtlicher Bürgermeister der Stadt Oppenheim und ist Volljurist. Als einer der ganz wenigen Abgeordneten der Regierungskoalition stimmte er am 18. November 2020 gegen das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz, das die Bundesregierung seitdem ermächtigt, alle Eindämmungs-Maßnahmen im Wege von Verordnungen zu erlassen, ohne dass das Parlament eingebunden wäre. Im Januar stellte er eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Er wollte wissen, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse der Regierung für die erlassenen Maßnahmen vorliegen. Darüber, was die Bundesregierung antwortete und über die gesamte Corona-Politik unterhielt sich Michael Hauke mit dem SPD-Politiker Mitte Februar im Hauke-Verlag in Fürstenwalde. Marcus Held schildert auch, wie er die Proteste rund um das Reichstagsgebäude am 18. November persönlich erlebte.
Michael Hauke: Herr Held, Sie haben als einziger Abgeordneter der SPD-Fraktion gegen das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz gestimmt. Mit diesem Gesetz wurden einige Grundrechte auf unbestimmte Zeit eingeschränkt bzw. aufgehoben. Was hat Sie damals bewogen, gegen diese Gesetzesvorlage zu stimmen?
Marcus Held: Es waren verschiedene Gründe. In erster Linie hatte ich sehr viele Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern, die viele Fragen zu diesem Gesetzentwurf hatten. Und diese Fragen konnte ich auch nicht alle beantworten. Das ging vielen Abgeordneten so. Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hatte sich als wirklich neutrale Instanz kritisch mit dem Entwurf auseinandergesetzt und gefordert, dass er nachgebessert wird. Dazu kamen inhaltliche Bedenken. Ich bin überzeugter Europäer. Und mit diesem Gesetz kann man eben mitten in Europa die Grenzen wieder hochziehen. Ich habe die Befürchtung, dass das Reisen nur noch mit einer Impfung möglich ist und das wäre die Impfpflicht durch die Hintertür.
Michael Hauke: Und die Ausschaltung des Parlamentes bei Fragen des Infektionsschutzes? Dass Sie als Gesetzgeber nicht über diese gravierenden Maßnahmen entscheiden dürfen, sondern nur im Nachhinein die beschlossenen Maßnahmen diskutieren dürfen?
Marcus Held: Das ist auch ein Grund gewesen. Das habe ich auch mit vielen Kolleginnen und Kollegen diskutiert. Das Datum 01.03.21 hat dabei eine große Rolle gespielt. Viele waren der Auffassung, dass die Verordnungen, die mit dem Gesetz in Kraft traten, dann automatisch enden. Ich habe entgegnet: Das stimmt so nicht! Wenn die Regierung bevollmächtigt wird, auf Basis dieses Gesetzes Verordnungen zu erlassen, dann können diese ab 01.03.2021 verlängert oder auch verschärft werden. Desweiteren finde ich es bei so einschneidenden Gesetzen wichtig, dass ein Parlamentsvorbehalt eingerichtet wird, das habe ich bei vielen anderen Gesetzesvorhaben auch so verhandelt, und es ist eine Kontrollfunktion!
Michael Hauke: Sie haben Anfang Januar eine Kleine Anfrage zur Corona-Politik gestellt. Was wollten Sie von der Bundesregierung wissen und was hat sie Ihnen geantwortet?
Marcus Held: Ich hatte viele Bürger-Anfragen, die wissenschaftlich begründet haben wollten, welchen Sinn die Lockdown-Maßnahmen haben, zum Beispiel Schließung der Kinos und Theater, Schließung der Schulen und Kindergärten, Schließung der Gaststätten, Schließung der Friseure. Und genau das habe ich die Regierung gefragt: Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen? Führen diese Maßnahmen wirklich zu einer Reduktion der Fallzahlen und wenn ja, von welcher Größenordnung ist auszugehen? Es gibt ja ein Gutachten, das besagt, dass sich kein einziger Mensch im Kino angesteckt hat. Ähnliches gilt für die Gaststätten.
Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Maßnahmen sollte die Bundesregierung nach fast einem Jahr der Pandemie eigentlich haben, um das Vorgehen darauf abzustimmen. Die Antwort fiel sehr ernüchternd aus. Die Bundesregierung hat mir in einem einzigen Absatz mitgeteilt, dass sie sich dauerhaft und regelmäßig wissenschaftlichen Rat bei ihren eigenen Instituten, wie zum Beispiel dem RKI, und weiteren Bundesbehörden einholt.
Michael Hauke: Das war alles?
Marcus Held: Ja! Das zuständige Gesundheitsministerium ist auf meine Frage, ob und wenn ja welche wissenschaftlichen Erkenntnisse es hat, leider nicht eingegangen.
Michael Hauke: Fühlen Sie sich als Abgeordneter von der Bundesregierung ernstgenommen? Immerhin sind Sie der Vertreter des Volkes, von dem laut Grundgesetz alle Macht auszugehen hat.
Marcus Held: Ich würde mir wünschen, dass das Parlament wieder mehr eingebunden wird und auch über alle Maßnahmen ergebnisoffen diskutiert werden kann.
Michael Hauke: Wie schätzen Sie die echte Stimmung unter den Abgeordneten der Regierungsfraktionen zu den Maßnahmen ein? Ist die Zustimmung wirklich so groß, wie es das Ergebnis vom 18.11.20 ausdrückt? Es gab ja nur acht Gegenstimmen aus der CDU/CSU und eine aus der SPD…
Marcus Held: Ich schätze, dass schon bei der Abstimmung über das Bevölkerungsschutzgesetz rund 20% der Abgeordneten von CDU/CSU und SPD Bedenken hatten. In den letzten Tagen hat sich die gesamtpolitische Stimmung aus meiner Sicht noch einmal verändert. Das zeigt sich an der sehr klaren Aussage des neuen CDU-Vorsitzenden Armin Laschet, der sagte, die Menschen würden bevormundet wie kleine Kinder und so könne es nicht weitergehen. Ich denke aber auch an Arbeitsminister Heil, der konkrete Öffnungsperspektiven fordert. Bildungsministerin Giffey hat es ebenfalls massiv zum Ausdruck gebracht. Und dann gab es den Wirtschaftsgipfel bei Minister Altmaier. Was die Auszahlung der Hilfen angeht, ist es wirklich katastrophal. Und das wurde Herrn Altmaier von den Verbänden auch auf direktem Wege mitgeteilt. Die Forderung der Wirtschaft, den Einzelhandel zu öffnen, unterstütze ich voll und ganz. Vor allem der Mittelstand hat sonst kaum eine Überlebenschance.
Michael Hauke: Was sind Ihre persönlichen Forderungen?
Marcus Held: Dafür zu sorgen, dass man wieder ein normales Leben führen kann. Aber auch, dass man die Möglichkeit hat, sich impfen zu lassen. Man darf ja nicht übersehen, dass durch die monatelange öffentliche Berichterstattung in Teilen der Bevölkerung große Ängste vor Corona entstanden sind. Meine wichtigste Forderung ist: Man muss den Menschen mehr Verantwortung für ihr eigenes Leben lassen! Man muss sie ernst nehmen und nicht bevormunden. Die AIDS-Kampagne aus den 90er Jahren ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Dort stand umfassende Aufklärung mit dem Ziel der Eigenverantwortung der Menschen im Mittelpunkt und das hat zu hervorragenden Ergebnissen bei der Bekämpfung der Krankheit geführt. Das Land muss zur Normalität zurückfinden. Und es darf nicht länger die Grundfeste der Wirtschaft und des Mittelstandes gefährden.
Michael Hauke: Helfen die Maßnahmen also nicht?
Marcus Held: Ich sehe zu viele Widersprüche bei den Maßnahmen. Wir müssen die Menschen mitnehmen und davon überzeugen, dass sie durch bestimmte Vorsichtsmaßnahmen vor diesem Virus aber auch anderen Krankheiten besser geschützt sind. Ich kenne niemanden, der seine Gesundheit fahrlässig aufs Spiel setzen will!
Zu den Widersprüchlichkeiten der Maßnahmen: Ich wollte in Berlin ein Sträußchen Blumen kaufen, da sagt die Verkäuferin: „Das geht so nicht. Sie müssen die Blumen vorbestellen, da oben steht die Handynummer.“ Dann habe ich angerufen und durfte einkaufen. Sie sagte: „Wir werden beobachtet – und wenn Sie nicht anrufen, machen die uns den Laden zu.“ Was hat das mit Gesundheitsschutz zu tun? Das sind Widersprüche, die die Bürgerinnen und Bürger tagtäglich wahrnehmen und nicht verstehen.
Michael Hauke: Die Frage ist doch auch, warum die Maske und AHA-Regeln selbst Gesundheitsminister Spahn und Ministerpräsident Woidke nicht vor einer Ansteckung schützen konnten.
Marcus Held: Das müssen Sie sie selbst fragen. Aber ich kenne tatsächlich in meinem persönlichen Umfeld Beispiele von Menschen, die seit Monaten vor lauter Unsicherheit nicht mehr ins Büro gehen und sich zu Hause aufhalten. Und diese Menschen haben sich dann für mich komischerweise auch mit Corona infiziert, obwohl sie alle Maßnahmen genauestens beachten.
Ich selbst hatte im vergangenen Jahr eine schwere Erkrankung und wurde von einem Corona-Test zum nächsten geschickt. Irgendwann hat mich ein Mitarbeiter im Testzentrum gefragt: „Waren Sie nicht schon mal da?“ „Ja, mehrfach.“ Daraufhin er: „Komisch, dass immer nur die noch mal kommen müssen, die negativ waren.“ Diese Aussage hat mich stutzig gemacht.
Ich hatte den Eindruck, als ob es in Deutschland nur noch diese eine Krankheit gäbe. Aber es gibt eben noch andere. Meine Erkrankung hat sich dann als schwere Lungenentzündung entpuppt und wurde dadurch leider viel zu spät erkannt und behandelt.
Michael Hauke: Der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen hat in unseren Zeitungen gesagt, dass die Medizin nicht schlimmer sein darf als die Krankheit. Dass also die Maßnahmen nicht mehr Schäden anrichten dürfen als Corona. Sehen Sie das auch so?
Marcus Held: Wir müssen uns viel mehr mit der Frage der Kollateralschäden befassen und die Dauer der Maßnahmen kritisch betrachten. Darauf weisen auch immer mehr Wissenschaftler aktuell hin. Gerade bei den Kindern und Jugendlichen! Mir gingen die Beschreibungen des Instituts für Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie der HU Berlin sehr nahe, da ich selbst Kinder habe. Hier wird deutlich: Wir haben den Break-Even inzwischen überschritten. Die negativen Auswirkungen der Maßnahmen in solchen Bereichen werden wohl schlimmer als die Krankheit, die man bekämpfen will, je länger sie andauern.
Michael Hauke: Wann entscheidet der Bundestag über das Fortbestehen der „Pandemischen Lage von nationaler Tragweite“? Mit einem entsprechenden Votum könnte sich das Parlament das Heft des Handelns zurückholen.
Marcus Held: Die erste Lesung hat bereits stattgefunden. In der nächsten Sitzungswoche steht es allerdings noch nicht auf der Tagesordnung. Könnte sein, dass es noch drauf kommt und Ende Februar entschieden wird, aber wahrscheinlich Anfang März, denke ich. Bei der Abstimmung im November haben die Grünen der Bundeskanzlerin schon früh ihre Solidarität signalisiert. Deshalb gehe ich davon aus, dass der Bundestag nicht nur mit den Stimmen der Koalition die pandemische Lage verlängern wird. Ich kann jedenfalls keinen nennenswerten Widerstand erkennen.
Michael Hauke: Ist es an der Zeit, bestimmte Beschränkungen aufzuheben?
Marcus Held: Bei der Einschränkung von Grundrechten muss immer eine Abwägung stattfinden. Das hat der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier zuletzt immer wieder betont und auch Stephan Harbarth, der aktuelle Präsident, äußert sich klar zu den juristischen Befassungen mit Corona-Maßnahmen. Es geht zum Beispiel um das Grundrecht der Berufsfreiheit, die seit vielen Monaten für Gastronomen, aber auch für Künstler und viele Einzelhändler deutlich eingeschränkt wird. Da muss man nach einer solchen Dauer schon die Frage stellen dürfen, ob das so noch gerechtfertigt ist. Oder die Religionsfreiheit: Es muss wieder Gottesdienste geben dürfen. Wir hatten das Thema schon Ostern letzten Jahres, da hatte ich die Bundesregierung ebenfalls zu Möglichkeiten der Durchführung von Gottesdiensten befragt. Seitdem ist fast ein Jahr vergangen. Es gab leider keine Weihnachtsgottesdienste und Ostern steht wieder vor der Tür.
Michael Hauke: Mit der erneuten Verlängerung des Lockdowns wurde auch der für Öffnungen notwendige Inzidenzwert von 50 auf 35 herabgesetzt. Das empfinden viele als Willkür. Wie sehen Sie das?
Marcus Held: Ich ein absoluter Gegner dieser Herabsetzung. Das ist eine rein politische Entscheidung, die in Verhandlungen zwischen den Ministerpräsidenten und der Kanzlerin vereinbart wurde. Ob es dafür eine wissenschaftliche Grundlage gibt, ist mir nicht bekannt. Wir können unser Leben nicht nur an Corona und einem politisch ermittelten Wert ausrichten.
Michael Hauke: Am 3. März tagen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten wieder. Erwarten Sie eine weitere Herabsetzung?
Marcus Held: Ich glaube, dass man sich eine weitere Verlängerung des Lockdowns nicht noch mal leisten können wird. Man bekommt ja mit, wie sich die führenden Politiker mehr und mehr äußern.
Michael Hauke: Meinen Sie also, dass am 8. März wieder geöffnet wird?
Marcus Held: Wirtschaftsminister Altmaier hat den Verbänden versprochen, dass bei der nächsten Sitzung am 3. März eine Öffnungsstrategie beschlossen werden muss. Da Herr Altmaier alles immer sehr eng mit Frau Merkel abstimmt, denke ich: Man hat die Zeichen der Zeit erkannt.
Michael Hauke: Wie schätzen Sie die wirtschaftlichen Folgen der aktuellen Politik ein?
Marcus Held: Es werden Insolvenzen in gar nicht abzuschätzender Zahl auf uns zukommen. Viele Mittelständler und Kleinunternehmer haben überhaupt keine Chance mehr, weil sie aufgrund mangelnder Liquidität nicht mehr bestehen können.
Michael Hauke: Menschen, die sich kritisch mit den Maßnahmen auseinandersetzen, werden als Covidioten, Verschwörungstheoretiker oder Rechtspopulisten bezeichnet, übrigens auch von Ihrer Parteivorsitzenden Saskia Esken. Ich selbst erlebe das am eigenen Leibe…
Marcus Held: Ich würde Sie nicht nur aus Höflichkeit nicht als Idioten oder dergleichen bezeichnen. Es muss immer eine Diskussion möglich sein!
Ich bin deshalb am 18.11.20, als die Abstimmung stattgefunden hat, bewusst zu den Demonstranten gegangen, weil ich mir selbst ein Bild machen wollte. Ich habe mit den Menschen Gespräche geführt. Die Menschen haben Ängste um ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder und Enkel geäußert. Es waren viele ältere Menschen, ganz viele, die immer Rot-Grün zugeneigt waren. Ich habe dort eine ganz andere Wahrnehmung gehabt als die mediale Darstellung. Es ist wichtig, gerade bei solch wichtigen Themen, dass jeder seine Meinung äußern kann, ohne verunglimpft zu werden. Es muss eine breitgeführte Debatte geben. Ich würde mir wünschen, dass diese Debatte in den Medien entsprechend abgebildet wird.