Wir sind mittendrin. Mitten in dieser angeblich so besinnlichen Vorweihnachtszeit. Nun wissen wir ja alle, dass die Vorweihnachtszeit alles andere als besinnlich ist. Es gibt zwar das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ – aber im Dezember tritt dieses Sprichwort alljährlich außer Kraft. Da kann man rumschmieden wie man will, der Dezember bleibt hektisch. Jahresabschluss, Jahresabschlussversammlungen, versicherungstaktische Umorientierungen, verstärkte arbeitstechnische Anforderungen, weihnachtsstrategische Vaterpflichten, Weihnachtsfeiern – und so weiter und so weiter.
War das eigentlich schon immer so? Fragt man die noch lebenden Ahnen, so ging es wohl vor ein paar Jahrzehnten eher noch gemütlich und eben auch besinnlicher zu. Nun gut, alte Fotos beweisen: damals lag mehr Schnee. Da die Türen tief verschneit waren, musste man, quasi notgedrungen, zu Hause bleiben. Dann hatte der Einzelne wahrscheinlich auch gesellschaftlich nicht ganz so viel an der Backe, hatte so die Zeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Aber eigentlich kann das auch nicht stimmen?!
Nehmen wir als Anschauungsbeispiel mal meine Person. Hätten sich meine Eltern erst im Dezember besonnen und sich nach der Besinnung auf jenes Wesentliche konzentriert, wäre ich ein Spätsommerkind geworden. Stattdessen bin ich ein Dezemberkind. Sie wissen nicht genau, was ein Dezemberkind ist? Dezemberkinder sind die armen Wesen, deren zügellose Eltern sich keine Gedanken über einen adäquaten, dem Kinde angenehmen Geburtstermin gemacht haben. Ja, ich bin so ein armes Kind. Nun mag dieses unüberlegte elterliche Zusammentreffen sicherlich mit den fehlenden Freizeitgestaltungsmöglichkeiten damaliger Zeit zusammenhängen, doch das akzeptiere ich hier nicht als Entschuldigung. Dieses unüberlegte Handeln, wahrscheinlich in den lauen Märzlüften anno 1969, wurde dann im Dezember des selbigen Jahres erbarmungslos bestraft. Mit mir. Verstehen Sie mich nicht falsch – natürlich nicht gestraft durch meine Person. In meiner Mutters Augen war ich wohl ein ganz besonders niedliches Kind (zur Strafe entwickelte ich mich erst ca. vierzehn Jahre später). „Erbarmungslos bestraft“ wurde natürlich die jahreszeitliche Terminsteuerung meiner Geburt. Dieser Geburtstermin macht mir übrigens heute noch zu schaffen. Aber kehren wir gedanklich erst einmal wieder zurück in eine kalte Dezembernacht im Jahre 1969. Moment, ganz kurz noch etwas in eigener Sache. Was Sie gleich lesen werden, entspringt nicht meinen eigenen Erinnerungen. Vielmehr verlasse ich mich hier auf die Berichte oben genannter Vorfahren.
Dezember 1969. Es ist Nacht. Sternenlos, klirrend kalt, die eisige Luft peitscht durch ein verschlafenes Dorf nahe der polnischen Grenze. Es schneit schon seit Tagen. Die Schneemassen haben das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten. Der Winter hat die Region, die Menschen und all das Getier fest im Griff. Tagsüber schinden sich die Dorfbewohner auf ihren Höfen und versuchen mit heißen Euterumschlägen die gefrorene Milch aus ihren Kühen zu holen. Nachts ist es still. Fast unheimlich still. So auch die besagte Dezembernacht. Alles schläft. Nur eine junge Frau kann nicht schlafen. Etwas in ihr drängt. Drängt nach draußen!
Also in dieser Nacht war es soweit. Ich, die Frucht der Märzlüfte, zeigte meinen Willen zum Verlassen der mir vorgegebenen Räumlichkeit an. Nacht, Schnee, kalt – blöder Zeitpunkt. Aber die Wohnungskündigung war unterschrieben. Nun musste mein Erzeuger dickbejackt durch die Winternacht zur örtlichen Krankenschwester hasten, die im Besitz des einzigen Telefons des Ortes war. Die Schwester soll eine ehrbare und pflichtbewusste Person gewesen sein. Nur in dieser Nacht wohl nicht. Eine abendlichen Feierlichkeit, die dazugehörigen Getränke und der nachfolgende Tiefschlaf ließen sie die Dringlichkeit der Klingel- und Klopfgeräusche an der Haustür nicht als Notsituation begreifen. Inzwischen soll ich aber schon überaus hartnäckig an meiner Ausreise gearbeitet haben – zum Leidwesen aller Beteiligten. Was etwas später passierte, wurde nicht so genau überliefert. Obwohl schon etwas Licht am Horizont meines zu absolvierenden Weges schimmerte, verhielt ich mich plötzlich wieder ruhig. Damit gab ich meinen Außendienstlern etwas Zeit, sich auf die Härte der Situation einzustellen. Der Rest ist schnell erzählt. Nach über einer Stunde permanenter Haustürenmalträtierung erhob sich die Krankenschwester von ihrem Lager und öffnete dem Verzweifelten. Das Dorftelefon wurde aktiviert, das nächste städtisch-poliklinische Beförderungsmittel geordert und mit einem davorfahrenden schneetauglichen Räumungsfahrzeug wurden wir aus dem eingeschneiten Dorf evakuiert. Da mir wahrscheinlich dieses ganze vorherige Hin und Her die Laune verdorben hatte, ließ ich die Wartenden dann aus Trotz noch eine Weile länger warten. Erst in den nächsten Morgenstunden entschloss ich mich wirklich, die Welt mit meinem Dasein zu entzücken.
Und damit komme ich wieder zum Beginn meines „So gesehen“. Ich bin ein Dezemberkind. Und wir sind wieder im Dezember. Jahresabschluss, Jahresabschlussversammlungen, versicherungstaktische Umorientierungen, verstärkte arbeitstechnische Anforderungen, weihnachtsstrategische Vaterpflichten, Weihnachtsfeiern und auch noch Geburtstag. Nicht nur, dass es bei der Geburt Dezember war, die Feierlichkeiten anlässlich dieses 69er Happenings sind dann traditionell natürlich auch im Dezember. Und drinnen, denn draußen ist es dunkel und kalt – blöder Zeitpunkt. Das grausame Los aller Dezemberkinder.

Dieses „So gesehen“ entstand im Dezember 2007 und wurde 2014 im gleichnamigen Buch veröffentlicht. Da Jan Knaupp noch immer im Dezember Geburtstag hat, sind diese Zeilen jedes Jahr auf‘s Neue aktuell.

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