„Habe Bedenken, ob das Gesetz verfassungsgemäß ist!“
Maaßen beklagt im Interview mit den Zeitungen des Hauke-Verlages „entgrenzte Angstmache“ der öffentlich-rechtlichen Medien. Er führt das unter anderem auf „hochideologisierte Journalisten“ zurück.
Begleitet von Protesten und Demonstrationen wurde in der vergangenen Woche das „Dritte Gesetz zum Schutz der Bevöl-kerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (Bevölkerungsschutzgesetz) vom Bundestag verabschiedet, wenig später vom Bundesrat gebilligt und noch am selben Tag vom Bundespräsidenten unterzeichnet. Es schränkt etliche Grundrechte dauerhaft und unbefristet ein.
Verleger Michael Hauke besprach mit dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Dr. Hans-Georg Maaßen nicht nur das Gesetz, sondern die Ausnahmesituation, in der sich Deutschland seit neun Monaten befindet. Eine entscheidende Rolle kommt dabei den öffentlich-rechtlichen Medien zu.
Michael Hauke: Herr Dr. Maaßen, Sie waren bis 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sind Staatsrechtler und Jurist aus Leidenschaft, wie Sie sich selbst beschreiben. Am 18. November sind einige im Grundgesetz garantierte Grundrechte mit dem Bevölkerungsschutzgesetz, das das Infektionsschutzgesetz geändert hat, auf unbestimmte Zeit eingeschränkt oder aufgehoben worden. Wie beurteilen Sie das?
Dr. Hans-Georg Maaßen: Bei einer Pandemie bzw. einer Krise braucht der Staat die Befugnisse, dass bestimmte Grundrechte eingeschränkt werden können, um diese Krise zu bewältigen. Die Frage ist nur: Ist es auch eine Krise? Und: In welchem Umfang und welcher Tiefe ist es erforderlich, die Grundrechte einzuschränken, um die Krise zu bewältigen? Mit dem Blick auf das beschlossene Gesetz habe ich meine Bedenken, ob das verfassungsgemäß ist. Es handelt sich hier um sehr weitreichende Ermächtigungen, die die Bundesregierung bekommen hat. Mir fehlt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, wann eine Maßnahme erforderlich ist, ob sie geeignet ist und ob sie angemessen ist. Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung ist entscheidend – gerade in der jetzigen Situation, bei der es darauf ankommt, dass man die Folgewirkungen der Maßnahmen betrachtet. Ob das die Kollateraltoten sind, also Menschen, die sich zum Beispiel das Leben nehmen oder deshalb sterben, weil sie schwer erkrankt sind und nicht operiert werden. Oder nehmen Sie die ökonomischen Folgen! Und was ist mit den psychischen Folgen bei alleinstehenden älteren Menschen oder Kindern? Alles das hätte auch geprüft werden müssen, bevor man sagt, die Bundesregierung darf so umfangreiche Maßnahmen erlassen.
M. Hauke: Sie sprechen indirekt die Angst an, die bei vielen, insbesondere älteren, Menschen vorherrscht: die Angst vor Ansteckung durch die eigenen Kinder oder Enkelkinder, die oft zu Vereinsamung führt.
Dr. H.-G. Maaßen: Angst ist ein natürliches menschliches Empfinden. Aber es muss auch Aufgabe der Medien und des Staates sein, den Menschen die Angst zu nehmen, indem sie darüber aufgeklärt werden, wie groß das Risiko für sie persönlich ist und mit welchen Maßnahmen man das Risiko in verantwortungsvoller Weise reduzieren kann. Was ich allerdings bei den Medien – und da denke ich vor allem an die öffentlich-rechtlichen – wahrnehme, ist eine entgrenzte Angstmache. Es wird permanent von Inzidenzzahlen berichtet, aber die Situation wird nicht hinreichend herunter gebrochen auf die konkrete Gefahr. Das bedeutet: Wie viele Menschen in welchen Personengruppen werden wirklich schwer krank, wie viele sterben wirklich daran und nicht damit? Diese Angstmache halte ich für verantwortungslos.
M. Hauke: Zielt Ihr Vorwurf neben den öffentlich-rechtlichen Medien auch auf die Politik, auf die Bundesregierung?
Dr. H.-G. Maaßen: Es betrifft natürlich auch einige Politiker. Ich möchte aber nicht alle Politiker in einen Topf werfen. Die Menschen beziehen ihre Informationen hauptsächlich aus den Medien – insbesondere den öffentlich-rechtlichen. Hier muss sich etwas ändern. Statt dieser dauernden Angstmache wäre es wichtig, den Menschen die Angst zu nehmen, damit ein normales Weiterleben auch in der Krise möglich ist.
M. Hauke: Wie kommt es Ihrer Ansicht nach zu dieser Form der Berichterstattung?
Dr. H.-G. Maaßen: Das ist nicht so leicht zu beantworten, aber zwei Dinge spielen eine Rolle: Angst kann man gut verkaufen, und es gibt hochideologisierte Journalisten, gerade beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die die Alarmsirene permanent einschalten. Ob es die Panikmache vor der „Klimahölle“ ist, indem man Kindern Angst macht, dass die Erde in zwanzig Jahren nicht mehr bewohnbar sei. Oder jetzt mit Corona. Das hat aus meiner Sicht System.
M. Hauke: Steckt auch bei der Politik System dahinter? Würde ein solches die Grundrechte stark einschränkendes Gesetz überhaupt durchzubringen sein, wenn diese permanente Angstmache bei den Menschen nicht so präsent wäre?
Dr. H.-G. Maaßen: Das ist spekulativ. Ich nehme einfach wahr, dass hier Angst gemacht wird. Dazu passt ein Strategiepapier aus dem Frühjahr, das aus dem Bundesinnenministerium stammen soll und in dem genau beschrieben wird, wie man den Menschen Angst machen sollte, um sie zu einem bestimmten Verhalten zu bringen, zum Beispiel durch Angstmache vor dem eigenen Erstickungstod oder dem naher Angehöriger. Angst wird hier aus meiner Sicht instrumentalisiert. Ich halte das für sehr problematisch, wenn die Politik so agiert, zumal eine derartige Angst in diesem Maße nicht begründet ist. Das sage ich vor dem Hintergrund, dass Corona sicherlich eine ernstzunehmende Viruserkrankung ist. Aber wenn ich die Zahlen der wirklich Erkrankten sehe, wenn ich das Durchschnittsalter der ernsthaft Erkrankten sehe, nämlich über 80 Jahre, wenn ich sehe, dass Vorerkrankungen eine wichtige Rolle spielen, dann muss man Corona in den richtigen Zusammenhang stellen statt die Menschen kopflos vor Angst zu machen.
M. Hauke: Wie müsste eine verantwortungsvolle Politik aussehen?
Dr. H.-G. Maaßen: Die Politik trägt ja nicht nur Verantwortung dafür, dass die Menschen diese Erkrankung nicht bekommen, sondern zum Beispiel auch für die Wirtschaft und die vielen Millionen Menschen, die unter dieser Situation leiden, für die Menschen, die sich nicht mehr zum Arzt trauen oder die Wohnung nicht mehr verlassen. Sie trägt Verantwortung für die vielen Depressiven, die jetzt einen furchtbaren Winter vor sich haben.
M. Hauke: Ich komme noch ein-mal zurück auf die Grundrechts-einschränkungen, die auch dazu beitragen, dass viele Menschen sich nicht mehr wohlfühlen. In Artikel 1, Absatz 3 des Grundgesetzes steht, dass die Grundrechte die „Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ binden. Müsste sich nicht also das Infektionsschutzgesetz dem Grundgesetz anpassen statt umgekehrt?
Dr. H.-G. Maaßen: Das ist schon richtig, aber das Grundgesetz muss auch Vorsorge treffen für Krisen. Wenn wir im Krieg sind, wenn wir in einer katastrophalen Notlage sind, muss das Grundgesetz mit einfachen Gesetzen Vorkehrungen treffen, dass wir die Lage überwinden können. Das Grundgesetz sieht Möglichkeiten vor, Grundrechte deutlich einzuschränken. Denken Sie an den „normalen“ Fall eines Infizierten: Wenn wir einen Ebola-Erkrankten hätten, dann muss er isoliert werden und gezwungen werden, den Ort nicht zu verlassen, weil die Erkrankung sehr gefährlich und leicht übertragbar ist. Das ist ein gewaltiger Eingriff in seine Grundrechte, der dann auch gerechtfertigt ist, damit andere Menschen nicht erkranken. Grundrechte werden also eingeschränkt, um andere Grundrechte, zum Beispiel das Recht auf Leben und Gesundheit anderer, zu sichern. Aber – und das ist der Kern meiner Kritik – das ist nur gerechtfertigt, wenn es in einem angemessenen Verhältnis zueinander steht. Jedes Menschenleben ist wichtig, aber die Verhältnismäßigkeit muss stimmen. Wenn die Wirtschaft kollabiert, Menschen ihr Haus kaum mehr verlassen dürfen und viele durch diese Maßnahmen sogar erkranken oder sterben können, dann ist ein angemessenes Verhältnis nicht mehr gegeben. Und das hätte der Bundestag in diesem Gesetzgebungsverfahren präzisieren müssen. So aber gibt das Gesetz der Bundesregierung die Handhabe, Maßnahmen zu verhängen, die Folgeschäden verursachen, die wesentlich schlimmer sind als der Nutzen der Maßnahmen. Die Medizin darf nicht schlimmer sein als die Krankheit.
M. Hauke: Mit dem Bevölkerungsschutzgesetz nimmt sich das Parlament, also die Legislative, für die Dauer einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite selbst aus dem Spiel. Die Gewaltenteilung wird durch dieses Gesetz für den Bund und die Länder aufgehoben, oder sehe ich das falsch?
Dr. H.-G. Maaßen: Das sehe ich nicht so. Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Bundestag Befugnisse an die Bundesregierung überträgt. Das ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, denn der Bundestag kann sich das jederzeit wieder zurückholen. Bei den Mehrheitsverhältnissen, die bei der Abstimmung zum Ausdruck kamen, halte ich es allerdings für fraglich, ob der Bundestag das in dieser Zusammensetzung in nächster Zeit überhaupt will. Zweifel habe ich aber auch, ob der Bundestag die Befugnis zu so wesentlichen Einschränkungen von Grundrechten übertragen konnte, ohne dies näher zu präzisieren und von konkreten Kontrollmechanismen abhängig zu machen. Aber das muss dann das Bundesverfassungsgericht entscheiden.
M. Hauke: Glauben Sie, dass das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird?
Dr. H.-G. Maaßen: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Ich habe deutliche Zweifel, dass diese ganzen Regelungen so durchgehen. Aber das Bundesverfassungsgericht ist ein politisches Gremium. Und das denkt manchmal anders als der klassische Jurist.
M. Hauke: In dem Gesetz inklusive dessen Begründung taucht 20mal das Wort Überwachung und 24mal das Wort ermächtigen/Ermächtigung auf. Es wird zugespitzt auch als ein Ermäch-tigungsgesetz bezeichnet. Würden Sie das teilen?
Dr. H.-G. Maaßen: Nein. Das Wort Ermächtigungsgesetz ist in der deutschen Rechtsgeschichte eindeutig belegt mit dem Gesetz von 1933. Damit hat dieses Gesetz gar nichts zu tun. Wenn es von Kritikern dieses Gesetzes so bezeichnet wird, ist das töricht. Denn dadurch diskreditiert man das berechtigte Anliegen, ein besseres, verfassungsrechtlich unkritisches Gesetz zu bekommen. Ziel muss ein Gesetz sein, das einen Ausgleich findet zwischen dem Schutz vor Corona und dem Schutz der Menschen und der Wirtschaft vor überzogenen Maßnahmen.